Gerd Meuer mit Nobelpreisträger Wole Soyinka
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Nachwort zu Wole Soyinka: „Die Last des Erinnerns“. - Düsseldorf : Patmos, 2001

WOLE SOYINKA - A man for all Seasons  von Gerd Meuer

„Ob ich für diesen schreibe, ob ich für jenen schreibe? Mann, da kann ich nur sagen: früher oder später schreib' ich für jeden was... Es ist die Gesamtheit der literarischen Produktion, der Interaktion mit der Gesellschaft, die das Leben eines Schriftstellers ausmacht, aber auch die Gesamtheit seiner "Gemeinde"...
     „Mein eigener persönlicher Gott is OGUN ... Man hat Ihnen vielleicht gesagt, dass der Gott OGUN ein  vielseitiger Gott ist: da ist der Ogun der Lyrik, der Ogun des Liedes, Ogun der Bauer, Ogun der Heiler, ja   auch Ogun der Kriegsherr, Ogun der Inbegriff der Kreativität. Der ist also mein liebster Gott.“

    Das wars wohl, was die Mitglieder des Nobel-Komitees dazu bewegte, 1986 den Preis für Literatur einem - jedenfalls in der Bundesrepublik bis dahin fast unbekannten - afrikanischen Autor zuzuerkennen, dem Nigerianer Wole Soyinka. Seit zehn Jahren schon hatte er immer wieder auf der Liste der ersten zehn Preisanwärter gestanden.
   In diesem Jahrzehnt war seine Vielseitigkeit nur noch weiter gewachsen. Diese Vielseitigkeit des "Mannes" hat die Mitglieder der schwedischen Akademie wohl zunehmend beeindruckt: seine lyrisch-dramatische Ambivalenz, die Vieldeutigkeit des Mannes, jenseits des gängigen vordergründigen Pamphletierens, seine Oralität, seine Sprachgewalt, eine Gewalt, die er bei empfundenem Bedarf auch immer wieder einmal gegen die tagtägliche Gewalt im nach-kolonialen Afrika eingesetzt hat.
    Ganz vordergründig, wenn Wole den Zwang empfand, sein Pfund als Nachfahre von Ogun, dem Lyriker, einzusetzen.

„Nun ist die Stunde des Gesangs, 
die Stunde der Ekstase in der Tänzer Füße.  
Des Trommlers Rufe stärken jetzt das Herz    
Die Clans, sie stehen versammelt endlos da von 
Berg zu Berg. 
Wo Ogun stand, seht an Millionen Brauen  
Dunkel Bronzen aus den Brennöfen von Abibiman 
ein Ring aus Stahl, der glänzt im Schein der Sonne. 
Ein Puls, der schlägt von endlos vielen Füßen, 
getrieben von dem alten Ruf: SIGIDI!
An Schönheit nimmt es keiner auf wohl mit der Antilope
An Stärke steht der Elefant allein 
Im Kampf da ist des Löwen Anmut heilig 
Im Flug beschämt der Reiher alle Neider 
Im Streite aber nimmt es keiner auf mit IHM: Ogun, 
der schreitet auf den sieben Pfaden. 
Ogun, der Unrecht richtend 
zwar leerte Vorräte an Blut im Himmel
und dennoch wütete vor Durst. 
Ich lese seine wilde Schönheit auf schwarzen Brauen 
in Tiefen flüssig-feur'ger Bronze
jenseits der starren Entrücktheit ihre Blicke und zittre! 
Nun, eh noch traurige Leere wiederbringt uns den Verlust 
eh noch die Schilde bröckeln, 
die zum Schutz der Schwachen, 
nun braucht es wirklich des Gesanges und des Wortes 
der Trankopfer, 
gegossen aus Kürbissen der Weihe. 
Anrufung, dass der Stille heil'ge Wandlung werde!           
Ogun steigt auf 
Nun lasst uns zelebrieren!“

     Der Sprecher der schwedischen Akademie führte den damals gerade 52-Jährigen Dichter, Dramatiker, Romancier, Essayisten, Dramaturgen, Schauspieler, politischen Kämpfer aus Ake in Nigerias Yorubaland so ein:             

„Sein Name steht für poetische Dramen tief in der afrikanischen Erde verwurzelt, jedoch mit einer globalen Vision und von einer allgemeingültigen Konsequenz. Gedichte geschrieben in Gefangenschaft und in Freiheit; Essays, die nachdenkenswerte Sichtweisen zur Literatur und der Menschheit bieten, in denen er sich eines beeindruckenden literarischen und linguistischen Arsenals bedient: Er ist ein "writer und ein fighter", ein Schriftsteller und ein Kämpfer für den menschlichen Geist.“

Keiner der die afrikanische Vergangenheit, die angebliche kommunalistische Idylle glorifiziert. Keiner der sich in lähmenden Wehklängen über den Neo-Kolonialismus, der angeblich auch heute noch – und allein - für alle Übel auch des unabhängigen Afrika verantwortlich ist, ergeht. Nein, "der Mann", der bereits zweimal in seinem Leben für seine humanistischen Überzeugungen eingesessen hat - zweimal ein "detainee" oder Häfling war - der hat stets "Granate" geschrieben, will sie weiter schreiben:

 „Ich glaube es war der amerikanische Dichter Tad Jones, der einmal gesagt hat, einige der Gedichte, die er schreibe, seien wie Kanonenkugeln- oder Granaten-Gedichte. Die seien für die sofortige Explosion bestimmt und damit habe es sich. Die sollten unter den Hintern explodieren, wissen Sie, unter den selbstzufriedenen Hintern der Leute und diese in die Luft jagen. Und damit hat sichs dann. Denn das sind eben "Granaten-Gedichte"...Jedermann schreibt solche Gedichte. Damit zielen wir auf bestimmte Situationen ab und das ist deren einzige Rechtfertigung. 
     Einer Leserschaft muss etwas sehr, sehr schnell gesagt werden. Da kann es sich durchaus um einen höchst lokalisierten Vorgang handeln. Da muss die Sache sehr rasch zerstört werden oder aber dieses Anliegen muss mit allen Mitteln unterstützt werden, bevor es von den jeweiligen Feinden zerstört wird.. Dann schreibst Du halt Granate. Du bringst die schnell zur Explosion, und dann vergisst Du die Angelegenheit völlig... 
      Und dann gibt es eben andere Sachen, die Du schreibst, ganz einfach deshalb, weil diese Ideen sich schon seit langem in deinem Kopf herumgetrieben haben. Und dann hast Du plötzlich die Musse, Dich hinzusetzen und darüber zu schreiben, ohne an irgend etwas Anderes zu denken als an die Wand Dir gegenüber, Deine Schreibmaschine und weiss der liebe Gott was noch...Da hast Du keinen Adressaten dafür, und Du weisst auch nicht, wann das je veröffentlicht werden mag. 
       Ein Kunstwerk ist eben auch ein sozialer Vorgang. Du musst wissen, dass die Soziologie der Kunst oder des Schreibens ein wichtiger Aspekt ist, der nur allzu oft vernachlässigt wird. Wenn Du erst einmal angefangen hast zu schreiben, dann scherst du Dich einen Dreck darum, ob Du 24 Absageschreiben erhältst bevor Dein Werk veröffentlicht wird. 
       Das ist Dir völlig schnuppe.“

Nur so ist er zu begreifen: Wole, der Yoruba, Nachfahre einer stolzen afrikanischen Kultur, und Weltenkind zu gleich. Schon früh hat er gegen die francophone Rechtfertigungsidelogie des senegalischen Dichter-Präsidenten Leopold Senghor, die Negritude, die ‚Tigritude‘ gesetzt.
Wollte heissen: ein Tiger redet nicht von seiner Tigritude, als Tiger nimmt er sich seine Beute.
Wole nimmt sich seine Wort-Beute: Yoruba und vor allem Englisch. Die Sprache des Kolonisators gewiss, doch er „besitzt“ sie: ein Vokabular von 11.000 Worten, haben wie die Philologen fliegenbeinzählerisch per Computer heraus gefunden. Er be-herscht die Sprache Skakespeares, Chaucers und T.S. Eliots. Wole schreibt, vor allem aber LEBT er.
     Von kleineren Geistern in seinem eigenen Land wurde er zu Beginn seiner zweiten Inhaftierung bereits einmal leichtfertig totgesagt: "the man died"; Sein autobiographisch-literarisches Meisterwerk über 20 Monate Einzel haft trägt den Titel "the man died", der Mann ist gestorben. Der Mann aber hat überlebt. Der Mann hat einen unsäglichen Spass am Leben. Er ist voller Sensualität: nicht nur Geist, sondern auch Körper, nicht bloss Gedanken, sondern Rhythmus; neben der Formalität einher  geht das Fest, die Feier, die Freude. Neben dem universellen Renaissance-Menschen steht der barocke Lebenskünstler. Wichtig für Wole ist, immer voll und ganz gegenwärtig zu sein, um mitzuleben und mitzugestalten.
    Dass er dabei aus einem unermesslichen Schatz an Tradition und Geschichte zehrt, beweist sein Schriftum. Er beweist es eigentlich am besten am begeisterndsten, wenn er das in der einsamen Kammer Geschriebene vor Mitmenschen wortgewaltig vorträgt.

„In einem Artikel, in dem ich auf irgendetwas Anderes reagierte, habe ich an einer Stelle von den "Chronologen und Ideologen" gesprochen. Von denen, die den Anliegen des Schriftstellers gleichsam eine geradelinige Richtung verpassen. Aus meiner ganz persönlichen Erfahrung aber  kann ich Ihnen sagen, dass all diese unterschiedlichen Anliegen und Ideen immer schon und gleichzeitig da waren. Ich bin der Meinung, dass die Leute, bevor sie sich des Anliegens eines Schriftstellers so sicher werden, erst einmal dessen kleine Veröffentlichungen, die ganz kleinen Druckwerke, das gelegentliche Gedicht, die Sketche, die ich auf die Bühne bringe, über meine eigene Gesellschaft, all die unterschiedlichen Schriften, gelesen haben sollten. 
    Denn ein und dasselbe Anliegen manifestiert sich doch in einem dreihundertseitigen Roman, in einem kurzen Gedicht, in einem Zeitungsartikel, einem Sktech auf der Bühne, usw.“

„Ja, einige Kritiker sind besorgt gewesen über das gelegentliche Theaterstück, das ich geschrieben haben und das die Vergangenheit behandelt. Doch ich gehe mit der Vergangenheit auf eine höchst eigene Weise um ... Sie müssen eben höchst aufmerksam sein, wenn Schriftsteller sich mit der Vergangenheit beschäftigen: deren Vergangenheit ist nämlich nie die ganze Wahrheit, weil sie die Vergangenheit nach ihrer eigenen ideologischen Haltung, oder ihrer eigenen utopischen oder visionären Sicht modellieren. 
      Für mich und für die meisten von uns ist die Vergangenheit lediglich Rohmaterial, das wir nach unserem Bilde verwenden und remodellieren ... Also ich wäre schon sehr besorgt, wenn die Schriftsteller sich mehr mit der Vergangenheit als mit der Gegenwart beschäftigen würden, zumal die Gegenwart sehr, sehr dringliche Aufmerksamkeit erfordert.“

Kaum verwunderlich, dass dem „man“ das Theater am meisten liegt. Mit der traditionellen Oralität, Wortkunst, der Yorubas und der neueren „Yoruba Opera“ grossgeworden, lernt er Ende der fünfziger Jahre als Stipendiat am Royal Court  Theatre in London das europäische Theater kennen. Schon entstehen "The Swamp Dwellers" und "the Lion and the Jewel".
     Auf Bestellung schreibt er zur Unabhängigkeit Nigerias 1960 "A Dance of the Forests" : Wole ist schon der, der er bis heute geblieben ist: er beschwört die Ahnen und Geister der Vergangenheit, doch die Vergangenheit entpuppt sich keineswegs als Idylle, die Vergangenheit bietet keine einfachen Antworten für das Heute. Nicht "Mutter Afrika" lebt auf, keineswegs nur grosse Helden; die Ahnen und Heroen entpuppen sich als höchst zweideutige, zum Teil dubiose Gestalten. Die Ahnen der von Europas Romantikern so gemalten "edlen Wilden" waren keinen Deut besser als die angeblich so makellos-gloriosen Vorfahren unserer Hitlers, Francos und Salazars.
     Und Afrikas neue Potentaten, brave Schüler Europas und somit auch Geschichts-Schöner oder Fälscher, haben es sehr wohl begriffen, besser als die Literaturkritiker, die Wole immer wieder als "zu schwierig, zu dunkel, zu elitär" beschrieben haben. Beweis: Wole wurde nicht nur wegen seiner direkten politischen Aktionen und Aussagen festgenommen: auch seine Stücke wurden zeitweise verboten, eben weil der angeblich "dunkle und schwierige" doch beim Volke ankam.
     Nein, „einen Honigmond zwischen dem Schriftsteller und dem Politiker kann“ es nach ihm in Afrika – „so wenig wie anderswo in der Welt - nicht geben“
    „Die Idee, dass es einen Honigmond zwischen Schriftstellern und Politikern gebe könne, die habe ich nie akzeptiert. Dafür sind die Probleme, vor allem in Afrika, doch viel zu schreiend. Wir haben doch politische Führer, die ganz definitiv Feinde des Volkes sind, nicht nur Feinde unserer Völker sondern Feinde der ganzen Menschheit. Da haben die Schriftsteller doch gar keine andere Wahl, als mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln in deutlichen Worten das Unrecht dieser Führungspersönlichkeiten offen zu legen. 
     Denn sind wir uns doch der Tatsache bewusst, da gibt es bestimmte politische Führer, die mit Hilfe ihrer mächtigen Propagandamaschinerien ständig die Linie des geringsten  Widerstandes einnehmen, will heissen, dass sie ständig den ach so bekannten und wohl akzeptierten Feind sehr hart und sehr kräftig attackieren... Denjenigen, die sagen die Schriftsteller seien elitär, denen ist immer wieder bewiesen worden, dass sie unrecht haben, unrecht und noch einmal unrecht. Denn jedes Mal, wenn sich die Machtstruktur verändert, dann entdeckt man plötzlich - und mein eigenes Land Nigeria ist hierfür der beste Beweis - dann entdeckt man, dass wenigstens die Hälfte dessen, oder sagen wir ruhig ein Drittel dessen, was die Schriftsteller schon immer gesagt haben, worauf sie schon immer eingeschlagen haben, stimmt. Teil des Problems ist natürlich, dass eine korrektive Massnahme nur dann akzeptabel ist, wenn der der sie ausführt, eine Knarre in der Hand hat. Wenn aber ein Schriftsteller genau dasselbe sagt, er aber keine Knarre hat, dann ist er angeblich "elitär". Bis eben jemand, der eine Knarre hat, genau das tut. Dann stellt sich eben heraus, dass der Schrifsteller die ganze Zeit ‚am Puls des  Volkes‘ gewesen ist. Das ist immer und immer wieder bewiesen worden. 
     So sind Behauptungen wie die, dass der Schriftsteller "elitär" sei, nur Entschuldigungen erstens einer korrupten Führung und zweitens Ausflüchte der Schleimlecker, Hof-Schranzen, der Bürokraten und der Geschäftsleute, die nicht wollen, dass der Laden in Unordnung gebracht wird.
      Es ist ihnen ganz egal, was um sie herum passiert, wenn nur eine falsche Art von Stabilität aufrechterhalten wird, die es ihnen ermöglicht, auf welche Weise auch immer, soviel Kapital wie nur möglich in ihre Taschen zu schaufeln.“
Die für Afrika selbstkritische Aussage des ersten afrikanischen Nobelpreisträgers für Literatur, sie könnte deutlicher nicht sein. Um so gewichtiger und glaubwürdiger deshalb seine anklagend-ironische Abrechnung mit den - deutschen - intellektuellen Ahnvätern des ganz aktuellen Rassismus, der über Jahrzehnte  (un das sowohl unter CDEU- als auch SPD-Regierungen!) U-Boot-Pläne und Waffen an apartheid-Südafrika lieferte und stets Sanktionen gegen das Apartheid-Regime ablehnte:

„Nehmen Sie zum Beispiel Gott und das Gesetz, vor allem ersteren. Die schwarze Rasse hat, historisch gesehen, mehr als bloss ein wenig Grund bezüglich des Einfalls fremder Gottheiten in ihre Geschicke paranoid zu sein. 
     Denn die Apartheid-Mentalität gründete ja über Jahrzehnte in ‚gottgegebener Vorbestimmung‘ auf etwas, was ich nur als testamentarischen Gottismus bezeichnen kann - ich wage es nicht, dies Christentum zu nennen. Die Söhne Hams auf der einen Seite, die Nachfahren Shems auf der anderen. 
      Die einmal ausgesprochene, nie und nimmer veränderbare Verwünschung. Und was das Gesetz angeht, so gründeten die Theoretiker weisser Überlegenheit ihre Weigerung, den Schwarzen gleiche politische Rechte einzuräumen auf die Behauptung, dass die Afrikaner weder Respekt noch die geringste Neigung für das Gesetz kennen - das heisst, für irgendein Konzept, das die Interessen des Individuums           mit denen der Gemeinschaft in Einklang bringt. 
      Selbst die mildesten, liberalen, ein bisschen bedauernden, jedoch insgeheim zufriedenen Apologeten der Apartheid - diejenigen, die für ein bisschen Apartheid waren, die dann keine Apartheid mehr wäre, die aber doch den status quo bewahrt hätte - selbst diese höchst zweideutige Rasse gründete – und gründet noch stets  ihre Argumentation darauf, dass die Idee der Gesetzlichkeit im schwarzen Kopf ganz einfach nicht existiere. Zum Beweis brauche ich nur auf einen jüngeren Beitrag zur Literatur in Gestalt der Autobiographie eines berühmten Herzchirurgen zu verweisen... 
      Diese Geister haben...höchst "respektable" intellektuelle Väter. Friedrich Wilhelm Hegel, um mein liebstes Beispiel zu zitieren, konnte behaupten, dass der "Afrikaner noch nicht das Bewusstsein von einer substantiellen objektiven Existenz - wie zum Beispiel Gott oder Gesetz - erlangt habe, ein Konzept, in dem das freie Wollen des Menschen zum Ausdruck kommt und durch das er sein eigenes Sein definiert".  
       Wenn wir uns mit diesen Gesellschaften beschäftigen, dann stossen wir auf eine seltsame Tatsache. Die prä-kolonialen afrikanischen Gesellschaften - und ich meine sowohl die vor euro-christlichen als auch der arabisch-islamischen Kolonisation - beweisen sehr deutlich, dass die afrikanischen Gesellschaften einander nie aus religiösen Motiven bekriegten. Das heisst: nie in ihrer Geschichte hat die schwarze Rasse versucht, andere mit missionarischem Eifer in einer Attitüde des "heiliger-als-du" gewaltsam zu unterwerfen. Aus wirtschaftlichen und politischen Gründen, ja. Aber nie aus religiösen. Vielleicht war es diese höchst unnatürliche Tatsache, die für die Schlussfolgerungen Hegels verantwortlich war - wir wissen es nicht. 
   Gewiss aber lassen die blutigen Historien der wichtigsten Weltreligionen  - lokal begrenzte Auseinandersetzungen gibt es ja bis heute - die klammheimliche Vermutung zu, dass Religion, so wie sie von jenen eminenten Philosophen definiert wurde, nur durch kriegerische Aktivität zur Selbsterkenntnis gelangt. 
       Heutzutage, gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, das heisst Jahrhunderte nach den christlichen Kreuzzügen und den islamischen heiligen Kriegen, die die eigenen und andere Kulturen zerstörten, alte zusammenhängende soziale Beziehungen fragmentierten und die Spiritualität ganzer Völker zertrampelten, die deren Kulturen in Befolgung der Gebote ungesehener Götter zerschlugen, heute finden wir Nationen, deren soziales Denken von kanonischen, theologischen Behauptungen geleitet wird - und angesichts dessen kommen wir zu der Einsicht: das Zeitalter der Dunkelheit hat die Welt nie wirklich verlassen. 
      Ein Staat, dessen Rechtfertigung für die fortgesetzte Unterdrückung seiner Ureinwohner, die die Mehrheit des Landes ausmachen, auf der Behauptung einer ‚göttlichen Vorbestimmung‘ basiert, ein solcher Staat ist eine Bedrohung der globalen Sicherheit in einer Welt, die von der Nationalität als gemeinsamem Nenner lebt. Mit anderen Worten: eine solche Gesellschaft gehört nicht in diese Welt. 
       Auch wir haben unsere Mythen, doch haben wir sie nie als Basis für die Unterdrückung Anderer verwendet. Auch wir bewohnen eine reale Welt, doch für die Rückeroberung der Totalität dieser Welt hat die schwarze Rasse keine andere Wahl als sich für das höchste Opfer vorzubereiten und dieses zu bringen... 
      Für den Rest der Welt leitet sich eine bedeutsame Lektion her von der Bereitschaft der schwarzen Rassen zu vergeben ab, einer Fähigkeit, von der ich meine, dass sie mit jenen  ethischen Vorschriften zu tun hat, die ihrer Weltsicht und ihren authentischen Religionen entspringen - keine von diesen  ist je völlig durch die Hinzufügungen fremder Glaubenssätze und deren implizite Ethnozentrismen vernichtet worden...
      Es ist die gleiche Grosszügiggkeit, die die Beziehungen   zwischen den ehemaligen Kolonialmächten und den ehemaligen Kolonien prägt, von denen ja einige den schlimmsten Formen des Siedler- und Pflanzer-Kolonialismus unterworfen waren, wo die Erniedrigung des Menschen, die mit Raffgier und Ausbeutung einhergehen, eine so intensive Perversion erreichten, dass menschliche Ohren, Hände und Nasen als  Buße für nichterreichte Produktionsquoten herhalten mussten. 
      Nationen, die die Agonie von Befreiungskriegen durchlebten, deren Erde noch mit den Leichen unschuldiger Opfer und unbesungener Märtyrer gedüngt ist, sie leben heute Seite an Seite mit ihren Versklavern der noch frischen Vergangenheit, ja sie teilen sich mit diesen sogar in die Kontrolle ihrer Geschicke, mit jenen, die sie vor vier oder fünf  Jahren zwangen, die Massaker ihrer Landsleute mitanzusehen. Weit über das Gebot christlicher Nächstenliebe hinaus sind sie es zufrieden, wieder aufzubauen und zu teilen.... 
      Wir wollen uns heute damit begnügen festzustellen, dass dieses Phaenomen es wert ist, beachtet zu werden. Denn es gibt ja immerhin europäische Nationen, deren Erinnerung an die Beherrschung durch andere Rassen auch noch zweihundert Jahre nach ihrer Befreiung so lebhaft ist, dass sogar heute noch an den Nachfahren dieser früheren Eroberer kulturell, sozial und politisch schlimme Rache geübt wird.  
       Ich habe solche Nationen besucht, deren grausame Geschichte unter fremder Herrschaft für das tagtägliche Bewusstein wie Ikonen in Monumenten, Parks, Museen und Kirchen ausgestellt ist, in Dokumentationen, Holzschnitten und Photogravuren, die unter schusssicherem Glas ausgestellt werden, vor allem aber  und am enthüllendsten darin, dass die Überlebenden der robernden Horden auf den erniedrigenden Status von geduldeten Ausländern reduziert werden, mit minderen bürgerlichen Rechten, Privilegien und sozialem Status, eine fast kaum geduldete Randexistenz, die sich im Pathos niedergeschlagener Blicke, hängender Schultern und apologetischer Zusammenkünfte mit der in jüngerer Zeit beherrschenden Rasse ausdrückt. 
     Ja, dies alles habe ich gesehen, und viel ist darüber auf internationalen Konferenzen geredet und geschrieben worden. Und obwohì ich - abstrakt gesprochen – die poetische Rechtfertigung hierfür erkennen kann, frage ich mich doch, ob das zeitige Herausschneiden eines Pfundes Fleisch, gleich bei der Geburt, nicht doch ein freundlicherer Akt wäre als die Sühne noch nach zehn oder zwölf Generationen für die Sünden ihrer Väter büssen zu lassen.    
     Mit solchen Traditionen der Herabsetzung des rassischen und kulturellen Stolzes marginalisierter Völker konfrontiert, geht mein Blick zurück zu unseren eigenen Gesellschaften, wo solche auslösenden Erlebnisse noch viel frischer in Erinnerung sind, wo die Ruinen früher lebendiger Gemeinschaften noch deutliche Entschuldigungen aussprechen, wo die Brandwolken der Politik verbrannter Erde, genährt von rassischer und kolonialer Kurzsichtigkeit, noch immer aufsteigen. Und doch finde ich, dass die Strassen die Namen der früheren Unterdrücker tragen, dass ihre Statuen und andere Symbole der Unterjochung zur Verschönerung öffentlicher Plätze belassen wurden, da das Bewusstsein eines selbstbewussten Volkes sie als bloße Dekorationen und als Nistplätze für Fledermäuse und Tauben begreift. 
     Und die Bibliotheken bleiben ungesäubert, so dass neue Generationen ungestört in den Werken von Frobenius, Hume, Hegel oder Montesquieu herumblättern können, ohne gleich auf der Umschlagseite auf die Warnung zu stossen:

ACHTUNG! DIESES WERK IST GEFÄHRICH FÜR IHR RASSISCHES SELBSTBEWUSSTSEIN!

Doch diese afrikanische Fähigkeit, sich einzurichten, sowohl im kleinen als auch im grossen Massstab, auf der kollektiven, institutionellen oder individuellen Ebene, darf  nicht als eine unbegrenzte, unkritische Bereitschaft der Schwarzen zur Ausübung von Geduld missverstanden werden. 
     Diese Beweise unserer Fähigkeit, uns zu arrangieren, stellen auf ihre Weise eine Ansammlung von Tests dar, eine Anhäufung von Schuldverschreibungen, ein implizites Angebot, das durch konkrete Ergebnisse eingelöst werden muss.  Es sind die Teile einer Hängebrücke, deren Bau von einem Ende des Abgrundes begonnen wurde, und die, ob die Erbauer dies wollen oder nicht, den Gesetzen der Materie gehorchen muss und von einem gewissen Punkt an in die Tiefe stürzen wird, in den sich ständig weitenden Abgrund aus Misstrauen, Frustration und wachsendem Hass.

Auf diesem Testgelände, das für uns Südafrika heisst, auf diesem mittelalterlichen Kampfgelände biblischen Terrors, primitiver Befürchtungen, muss von allen Freunden des Friedens eine klare Wahl getroffen werden: entweder bringen wir dieses Land in die moderne Welt, in ein rationales Sein im Geiste menschlicher Partnerschaft, eine Fähigkeit, die jede befreite Nation auf unserem  Kontinent reichlich bewiesen hat - oder wir müssen es ganz erbärmlich auf die Knie zwingen, indem wir es einfach jenseits menschlichen Wiedererkennens auswerfen, so dass es von innen heraus in sich zusammenfällt, mit Hilfe der Strategien seiner kampfbereiten Mehrheit. Egal wie die Wahl auch ausfallen mag, es kann nicht angehen, dass dieses Jahrhundert uns bis in das einundzwanzigste Jahrhundert hinein verfolgt; mit 21 wird der Mensch meist symbolisch erwachsen, ein Übergang, den die Menschen aller Kulturen mit Übergangsriten zu feiern pflegen. Dieser Kalender ist, wie wir wissen, keineswegs universal, doch die Zeit ist es, und ebenso sind es die Imperative der Zeit. Und von allen Imperativen, die unser Wesen, unser Hiersein und unser humanes Selbstverständnis in dieser Zeit ausmachen, kann keiner als dringlicher angesehen  werden als der nach einem Ende des Rassismus, der Ausrottung der Ungleichheit unter Menschen und des   Abbaus aller dazugehörenden Strukturen.

         Der Preis für die Einlösung dieses Imperativs: das allgemeine Stimmrecht und der Frieden.

Nachwort zum Nachwort... (zu Burden von Wole Soyinka):
Unmittelbar nach der Entgegennahme des Literatur-Nobelpreises 1986 stiftete Soyinka einen eigenen Literaturpreis.
Gleich zu Beginn des nigerianischen Bürgerkrieges („Biafra-Krieg“) war der Yoruba, Nigerianer, Weltbürger Soyinka vom damaligen Militärregime ohne Prozeß für nahezu drei Jahre an geheimem Ort in Einzelhaft gesetzt worden. Sein Vergehen: er hatte sich friedliche Verhandlungen zwischen der Bundesrepublik Nigeria und dem abtrünnigen Biafra eingesetzt und gegen einen Krieg agitiert.
Zwei Jahrzehnte später stiftete der Yoruba Soyinka seinen Preis im Namen im Namen seines aus dem Volk der Igbo stammenden und für Biafra kämpfenden Schrifstellerkollegen Christopher Okigbo, der in den ersten Wochen des Krieges umgekommen war. 
Vierzehn Jahre nach Verleihung des Nobelpreises sammelten Schüler des Gymnasiums im baierischen Weilheim im Vorhinein zu Soyinkas Lesungen über DM 10.000,-- für einen von ihm zu bestimmenden – von den Schülern wohl karitativ gemeinten – Zweck. 
Soyinka stiftete erneut einen Preis, wieder im Namen eines schreibenden Kollegen. dieses Mal im Namen seines vom Diktator Abacha ermordeten Kollegen Ken Saro-Wiwa, der für die Rechte seines im reichen Erdölgebiet verarmten Ogoni-Volkes gekämpft hatte. 
Der Preis wird jetzt alljährlich verliehen an nigerianische Jugendliche, die sich, so der Stifter Soyinka, „ durch besonderen Einsatz für die friedliche Beilegung ethnischer und religiöser Konflikte in Nigeria verdient gemacht haben.“

(Zum Zeitpunkt, als diese Zeilen gesetzt wurden, arbeitete Soyinka, wenn er nicht vor der Untersuchungskommission zu Menschenrechtsverletzungen aussagte,  an der – vorläufig – letzten Fassung seines neuesten Theaterstückes, „Sauna Bash“ (Arbeitstitel). Es handelt – in einer Adaptation von Alfred Jarrys „Ubu Roi“ – von der jüngsten Phase blutiger Militärdiktatur in Nigeria unter dem „zwergenhaften Ungeheuer“ Sanni Abacha.)