Gerd Meuer mit Nobelpreisträger Wole Soyinka
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Obatala

      Die Narben der Erinnerung, die Waagschalen des Gesetzes

....Nichtsdestoweniger ist die Mythologie das bevorzugte Feld meiner Streifzüge auf der Suche nach ‚Futter‘, und ich gebe gerne zu, dass ich, wenn ich mich mit ethischen Problemen konfrontiert sehe, die an die Grundlagen von Gerechtigkeit und Gleichgewicht in der Gesellschaft rühren, dazu neige, Paradigmen in meinem eigenen mythologischen Reservoir zu suchen, eben jene Archetypen – Götter, Weltenschöpfer, Wirklichkeit gewordene Wesenheiten und historischen Protagonisten – die in ihrer eigenen Geschichte und in ihren Persönlichkeiten einige der edelsten, zugleich aber auch einige der abscheulichsten Attribute menschlichen Verhaltens und Strebens repräsentieren.

       Die Götter der Buße und der Aussöhnung

Erlauben Sie mir deshalb, dass ich Ihnen jetzt Obatala vorstelle, den Gott der Reinheit, der aus der ersten der oben genannten Gruppe sofort vor dem inneren Auge auftaucht. Lassen Sie mich Ihnen rasch seinen Lebenslauf schildern – er ist derjenige, der jedem neuen Wesen seine oder ihre Form verleiht. Zunächst formt er jedes künftige Wesen, händigt es dann weiter an Edumare (Olodumare), dessen Aufgabe es dann ist, dieser Form Leben einzuhauchen, wonach dann die Gottheit Orunmila jedem dieser Wesen sein individuelles Schicksal zuerteilt, bevor dieses Wesen auf den Weg zu den Lebenden geschickt wird.

Dann aber passiert es eines Tages, dass Esu, der Götterbote und zugleich ein unweigerlicher Chaosgeist eine Kürbisflasche voller Palmwein in Griffweite von Obatala zurücklässt. Von seinen kreativen Anstrengungen durstig geworden – und dem köstlichen Geschmack des Palmweins nicht abgeneigt – spricht Obatala dem Palmwein ein wenig allzu genießerisch zu. Mit der Folge, dass seine formenden Finger unsicher werden und er wahrhafte Abnormalitäten formt - Krüppel, Bucklige, Blinde, Stumme usw.- all jene Mitglieder der Gesellschaft, die die ‚Political Correctness‘ heutzutage geziert-zurückhaltend als ‚physisch heraus-gefordert‘ bezeichnet.

Wegen Überarbeitung und Palmweingenuß ein wenig schlaftrunken, fällt Obatala in einen seligen Schlummer. Als er dann erwacht, wird er des ungeheuren Ausmaßes des von ihm angerichteten Desasters gewahr. Doch zu spät, denn Edumare und Orunmila haben bereits ihren Teil der gemeinsamen Arbeit getan und die unglückseligen Wesen sind bereits in die Welt hinausgeschickt worden. Reumütig bedeckt sich Obatala mit etwas, das Sackleinen und Asche gleichkommt, gibt sich der Trauer über sein Tun hin und schärft seinen Anhängern ein stets dem tödlichen Durst zu entsagen. In diesem Zusammenhang für uns weit wichtiger aber ist – jedes Jahr steigt Obatala in die Welt der Sterblichen hinab, um für sein Versagen Buße zu tun. Wenn er dann am Tage seines Festes in die Gestalt eines seiner Priester oder seiner ‚Messdiener‘ geschlüpft ist, macht er eine rituelle Phase (‚passage‘) der Gefangenschaft, der Erniedrigung und schlussendlich des Loskaufes und der Erlösung durch.

Das Obatala-Festival ist eines der bewegendsten und kunstvollsten im (religiösen) Jahresablauf der Yoruba. (Soyinka stammt aus dem Volk der Yoruba im Südwesten Nigerias; die afrikanische Religion hat ungeachtet der Missionierung durch Christentum und Islam bei der Mehrheit der Bevölkerung überlebt und zahlreiche religiöse Feste rhythmisieren das Jahr. Soyinkas Theater-stücke sind ebenso wie seine Gedichte ganz wesentlich von der Kosmologie der Yoruba geprägt; Anmerkung des Übersetzers.)

Das Festival ist das Äquivalent des europäischen Wunder/Moralitäten-Schauspiels und es ist eines in dem die gesamte Gemeinschaft ihre Wunden verbindet, zerrissene soziale Bindungen neu knüpft werden; und es ist ein Fest, bei dem die Gesellschaft auch von den über das Jahr angewachsenen Übeln reingewaschen wird. Segenssprüche werden erteilt, um die Gemeinschaft für die Mühen des bevorstehenden Jahres zu stärken. Das alles beherrschenden Ethos ist das der Buße, der Heilung und der Versöhnung.

Ein Bild, das in nahezu allen Reinigungsriten, den Riten der Heilung oder ganz einfach des Übergangs von einer Phase der menschlichen Existenz zu einer anderen auftaucht, ist das des Bogens oder Bogenganges, gewöhnlich aus Zweigen geformt, unter denen ein Individuum oder eine ganze Gemeinschaft hindurch schreiten muss. Manchmal handelt es sich um nicht mehr als um einen mit Palmwedeln bekränzten Pfahl, eine mit Kreide gezogene Linie oder um Camwood (afrikanisches Rotholz), über das hinweg geschritten werden muss, eine gewobene Matte, über die die Bittsteller hinweg schreiten müssen, oder eine historische Gasse, durch die eine gemeinschaftliche Prozession ihren Weg windet, wobei dann auf dem Weg Opfer gebracht werden, auf dass die Gemeinschaft geheilt oder wiedergeboren werde.

Ich stelle mir einen Prozess der ‚Wahrheit und der Versöhnung‘ gerne als einen dieser symbolischen Bögen vor, unter dem sowohl Opfer als auch Täter hindurch schreiten müssen, um geistig geheilt, gestärkt zu werden in einer Art und Weise, die es ihnen ermöglicht, der Vergangenheit den Rücken zuzuwenden und ein neues Leben zu beginnen, eine neue Struktur von Beziehungen zu schaffen, die von der Anderen Seite her winkt.

Obatala ist keineswegs die einzige der fehlgehenden Gottheiten im Yoruba-Pantheon. Einer nach dem anderen - Ogun, Sango, ja sogar Orunmila, die Gottheit der Weissagung.... sie alle werden auf die Ebene der Sterblichen heruntergeholt. Ein Bruch, eine Übertretung, dann das Eintauchen in wiedergutmachende Leidenserfahrungen, nach denen sie dann ihren (alten) Status sowohl unter ihresgleichen (den Göttern) als auch in den Augen der Menschheit wiedererlangen. Und natürlich erinnert die alljährliche Neuinszenierung ihrer Momente der Schwäche und des Irrens ihre Anhänger auch an ihre eigenen Schwächen und an die ethischen Gebote, die das Sühneopfer zum unabdinglichen Präludium der Wieder-herstellung der Ordnung und der Versöhnung machen.

Es ist – dessen bin ich mir gewiss – ein Prinzip, das zu preisen selbst das Christentum nicht umhin kann – denn sowohl das alte als auch das neue Testament sind ja voller Erzählungen über Bußetun, Wiederherstellung (des Gottesreiches) und der Versöhnung.

Und dann gibt es da noch eine Erweiterung. Indem wir Obatala als unser Vorbild heiliger Tugenden anführen, müssen wir uns daran erinnern, dass die dramatische Struktur seiner Buße-Riten sowohl seine Festnahme als auch seine Einkerkerung als völlig ungerecht erscheinen lässt. Dies aber ist ganz absichtlich so angelegt. Wie Obatala selbst werden auch seine Ebenbürtigen (die Gottheiten) angeklagt; auch sie werden dazu gezwungen, sich der Theologie der Übertretung, des Bußetuns und der Wiederherstellung der göttlichen Ordnung zu unterwerfen.

Kurz gesagt entfalten sich Obatalas Riten der Buße wie folgt: die Gottheit ist gezwungen sich verkleidet auf eine Reise zu begeben, verkleidet als ein ganz gewöhnlicher Sterblicher. Im Verlauf dieser Reise besucht Obatala das Königreich Sangos, einer anderen Gottheit, die ihrerseits einige jener Charakteristika aufweist, die wir als die weniger lobenswerten Merkmale der Sterblichen bezeichnet haben: Unbeherrschtheit, Megalomanie, usw., usw. Hier wird nun Obatala fälschlich beschuldigt, Sangos, des Königs bevorzugtes Pferd gestohlen zu haben. Er aber kann seine wahre Identität nicht enthüllen, weil dies ein Teil seines Bußeaktes ist, incognito zu bleiben; ihm ist es verboten, seine unsterblichen (übermenschlichen)  Kräfte einzusetzen, egal auf welche der ihn heimsuchenden Widerwärtigkeiten er auch trifft.

Als er unter den erniedrigendsten Umständen in einen Kerker geworfen wird, bleibt ihm keine andere Wahl als auf seine Rettung zu warten, nie wissend aus welcher Richtung die kommen mag – oder wann. Erst als die Natur zuschlägt, und als die Gemeinschaft – ihrerseits – unter den Konsequenzen der Ungerechtigkeit, die einem unschuldigen alten Mann unbeabsichtigt  zugefügt wurde, zu leiden beginnt, erst dann greift Orunmila, der Gott der Weissagung ein. Trockenheit folgt auf Überschwemmungen, Ungleich-gewicht der Natur bringt Verwüstung über die Gemeinschaft. Schlussendlich wird Orunmila konsultiert und der enthüllt dann, dass die Stadt für ihren eigenen Akt der Unge-rechtigkeit bestraft wird – auch wenn dieser Akt unabsichtlich begangen wurde!

Sango, der feurige König muss sich nun selbst den Riten der sühnenden Reinigung (purgation) unterwerfen, weil er den Befehl zu Obatalas Festnahme erteilte, ohne zuvor Schuld oder Unschuld des beschuldigten Wanderers festgestellt zu haben. Er erniedrigt sich vor Obatala; sein früherer Freund, der zum Opfer geworden war, vergibt ihm und umarmt ihn. Die Versöhnung wird zu einem universalen Fest. Das Obatala-Festival ist allumfassend in seinem Ethos der Schuld, der Reue und der Wiedergutmachung; es verschont weder die Götter noch die Menschheit. Es ist ein Drama über den Sturz aus der Gnade und der Erhebung (über das Menschlich-Sterbliche), und somit auf bemerkenswerte Weise angebracht für eine Gegenwart, die mir gelegentlich vorkommt wie der perverse Entschluss ein Jahrhundert weltweiter Anomie (Auflösung aller sozialen und moralischen Leitideen) zu verlängern – von Nord bis Süd, von Ost bis West, von Ruanda bis Tchetchenien, von Palästina bis Sierra Leone. Und die Frage, die dieses Festival an uns stellt, ist die: wenn schon die Götter Entschädigung leisten, können wir Sterblichen es dann wagen dem weniger beizupflichten?

Auszug aus: Wole Soyinka: Die Last des Erinnerns - Was Europa Afrika schuldet - und was Afrika sich selbst schuldet / Aus dem Englischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Gerd Meuer. - Düsseldorf : Patmos, 2001 (S. 109 -114).

Einige wenige Exemplare sind noch zu beziehen beim Übersetzer, siehe Kontakt.